Das Ziel ist klar: ein Rothirsch-Stier
Es ist ein absolutes Highlight im Jahr, die Hirschbrunft in den Schweizer Alpen. Diese Ansicht teilen nicht nur hunderte Bündner-Jäger mit mir, sondern auch viele Schaulustige und Naturliebhaber, denn es ist ein richtiges Spektakel.
Wir haben die Ferien extra so gelegt, dass wir Ende September im Engadin sind. Jeden Tag bin ich mit der Kamera unterwegs und steige die Hänge der umliegenden Berge hoch, fotografiere Gämsen, Steinböcke und Adler. Doch ihn höre ich nur rufen, den König des Waldes, den Rothirsch. Aus der Ferne kann ich grob einschätzen, wo sie stehen müssten, die grossen röhrenden Stiere, aber ich sehe sie nicht. Ich sehe sie weder auf meinen Pirschgängen, noch morgens früh oder abends in der Dämmerung. Dabei konnte ich sie in vergangenen Jahren auch schon problemlos auf der Ebene bewundern, wie sie beim Eindunkeln auf die Felder ziehen, das mächtige Haupt erheben, sodass das Geweih den Rücken zu berühren scheint und dann ihr tiefes und sonores Röhren von sich geben. Doch dieses Jahr bekomme ich keinen zu Gesicht. Es scheint irgendwie verhext zu sein.
Gut Ding will Weile haben
Es ist ein Ort, den ich besser kenne, als alles andere im Engadin – die sprichwörtliche Westentasche. Es ist die Val Trupchun im Schweizerischen Nationalpark. Wenn man die Hirschbrunft in vollen Zügen geniessen will, dann sollte man dieses Tal unter keinen Umständen auslassen. Ab Mitte September ist die Val Trupchun eine einzige grosse Brunft-Arena.
Da mir mein Hirsch-Foto für dieses Jahr noch fehlt, beschliesse ich mein Glück im Nationalpark zu versuchen. Die Chancen stehen gar nicht schlecht. Schon früh beim Aufstieg höre ich das unverkennbare Röhren aus der Ferne. Es drängt mich schneller zu gehen. Besonders leise braucht man sich hier nicht zu verhalten, denn die Tiere sind die Menschen gewohnt und wissen, dass die auf den Wegen bleiben müssen. Es scheint fast wie im Zoo – nur umgekehrt, denn die Menschen sind auf den Wegen eingesperrt und die Tiere bewegen sich frei darum herum.
Ich folge der «Via sura» hoch zur Alp Trupchun. Unterwegs spiegle ich mit dem Fernglas immer wieder die Lichtungen und Waldränder der gegenüberliegenden Talseite ab. Ich beobachte einige kapitale Hirsche, die in vollem Eifer um die Gunst der Damen werben. Einer hat es mir besonders angetan, ein Zwölfender, ein Kronenhirsch. An dem Tag kann ich über 60 Stück Rotwild beobachten, aber kein Tier kam nahe genug zur Kamera.
Der nächste Versuch
Noch gebe ich nicht auf. Ich versuche es am nächsten Tag wieder und ändere meine Strategie. Ich gehe früh morgens, vor den Touristen. Nach der Dämmerung bin ich schon im Tal und höre wieder das Röhren aus etlichen Richtungen. Ich verliere keine Zeit mit Beobachtungen und gehe direkt dorthin, wo am Vortag in etwa mein Zwölfender stand. Und plötzlich rieche ich ihn. Hier muss sein Brunftplatz sein. Es stinkt wie ein riesiger Ameisenhaufen. Die ganze Luft ist sauer. Weit konnte er nicht weg sein. Also gehe ich langsam, die Kamera in der Hand, den Weg auf und ab. Ich schaue in jeden Lawinenzug und warte.
Drei Stunden später ziehen drei Hirschkühe in die Schneise ein und ich denke mir, wenn die Damen kommen, kann der Herr nicht weit weg sein. Also setze ich mich an den Wegrand und warte. Sechs Kühe traversieren und dann, am Schluss des Zuges kommt er, mein Stier. Und er gewährt mir etwa fünf Minuten seiner kostbaren Zeit. Dann verschwindet er wieder im Wald. Es war ein atemberaubendes Erlebnis. Nur 20 Meter trennten uns.